Musterfassaden werden angefertigt, um beispielsweise einen architektonischen Entwurf zu überprüfen, konstruktive Anforderungen an die Fassade zu testen und etwaige Mängel in der späteren Bauausführung vorhersehen zu können. Als Ausschnitt einer Gebäudehülle mögen sie als kulissenhafte Irreführung des Betrachters (in der Art eines potemkinschen Dorfes) wirken.
Teil einer Kooperationsausstellung
Die "Musterfassade" an der Kunststätte Bossard kam 2015 an ihren Standort, als Teil der Kooperationsausstellung "Timm Ulrichs: des großen Erfolges wegen" zum 75. Geburtstag des Künstlers. Timm Ulrichs beschäftigte sich in der Ausstellung an der Kunststätte Bossard unter anderem mit Schein-Architekturen, mit Kulissen und mit der Vorspiegelung falscher architektonischer Tatsachen. In Hannover entdeckte er eine Musterfassade aus anthrazitfarbenem Sichtbeton mit quaderförmigen Vor- und Rücksprüngen, die 2008 für den im Herbst 2015 eröffneten Erweiterungsbau des Sprengel Museums Hannover angefertigt worden war. Entworfen wurde der Bau durch das Büro Meili und Peter Architekten AG (Zürich).
Durch die Aufstellung als eigenständiges Kunstwerk wird die Merk-Würdigkeit der Musterfassade offenkundig, ebenso entfaltet aber auch ihr skulpturaler Charakter seine volle Wirkung: Auf den ersten Blick könnte sie als Werk eines minimalistischen Bildhauers wahrgenommen werden; erst bei einer genaueren Auseinandersetzung mit dem Objekt wird sein Charakter als Musterfassade – und damit als Readymade – offenkundig. Verstärkt wird der Effekt durch den Kontrast mit den hohen Fichten am Ende eines Waldwegs, der, außer für Ortskundige, mitten ins Nirgendwo zu führen scheint. Immanent ist darin auch der Gegensatz zwischen Peripherie und Zentrum enthalten. Er wurde in der – vom Künstler durchaus bewusst herbeigeführten – Situation auf die Spitze getrieben, dass der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil, der zur Vernissage am 25.6.2015 anreiste, das Sprengel-Museum gleichermaßen schon in Jesteburg eröffnete, bevor er am 19. September der Erweiterungsbau des Museums in Hannover feierlich einweihte.
Dialogpartner für den Kunsttempel
Mit der „Musterfassade“ wird der spektakulären Fassade des Kunsttempels, die mit ihren Fehlbränden und den mehreren hundert Baukeramiken eines der bedeutendsten noch erhaltenen Zeugnisse des so genannten Backsteinexpressionismus darstellt, ein Dialogpartner gegenübergestellt, wie er formal und inhaltlich nicht unterschiedlicher sein könnte: der organisch belebten, figürlich ausgestalteten, vielfarbigen Fassade aus dem Wald bei Jesteburg die konkrete, streng geometrische, durch minimale Unterschiede in den verwendeten Betonmischungen strukturierte Musterwand aus Hannover. Verbindendes Element der beiden Fassaden ist ihre kraftvolle skulpturale Wirkung, die beim Kunsttempel einer plastischen Auffassung von Architektur und einem Bemühen um das Verschränken von Gattungen entspricht, bei der Musterfassade dagegen ihrer Herauslösung aus dem Kontext des Gebäudes sowie ihrer ‚Zweitverwertung‘ als Readymade durch Timm Ulrichs.
Die Kunststätte Bossard ist damit um eine künstlerische Position reicher, denn die Musterfassade verblieb als Schenkung der Stadt Hannover an die Gemeinde Jesteburg an ihrem Standort am Bossardweg. Sie soll einmal den Endpunkt des geplanten Kunstpfads bilden, der die Ortsmitte von Jesteburg zukünftig mit der Kunststätte Bossard verbinden soll. Der besondere Dank der Kunststätte Bossard gilt Timm Ulrichs, der mit seinen Interventionen nicht nur manche inhaltliche Position der Bossards kritisch gespiegelt und kommentiert hat, sondern auch einen dauerhaften Beitrag dazu leistet, dass sich zukünftig umso mehr Kunstliebhaber auf den Weg nach Jesteburg machen werden.
Timm Ulrichs und Ministerpräsident Stephan Weil an der Musterfassade am 25.6.2015
Informationen zum Kunstpfad finden Sie hier.